Brief an den Bundeskanzler
Werter Herr Bundeskanzler Mag. Kern!
Sehr geehrter
Herr Bundesminister Mag. Drozda!
Ende Jänner 2017 fahren Sie nach Israel. Dort werden Sie die Holocaust
–
Gedenkstätte Yad Vashem besuchen und Holocaust
–
Überlebende treffen. Im Namen der österreichischen Bevölkerung werden Sie dort
–
konfrontiert mit der österreichischen
Verantwortung für die Gräuel des 2. Weltkriegs
–
Ihrer Trauer und Ihrem Mitgefühl Ausdruck verleihen. „Nie wieder Faschismus
–
nie wieder Krieg!“, die Parole der antifaschistischen SozialdemokratInnen, ist auch für f
riedensbewegte Menschen von heute eine
höchstaktuelle Losung.
Sie werden bei Ihrem Besuch auch Herrn Premier Netanyahu Ihre Aufwartung machen. Wie, Herr Bundeskanzler und Herr
Bundesminister, werden Sie ihm begegnen, einem bekanntermaßen sehr rechtsgerich
teten Politiker?
Herr Netanyahu wird Ihnen erklären, dass Israel sich nach wie vor in einem Bedrohungszustand befindet. Dass daher eine
unhinterfragte Unterstützung nötig sei. Dass Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten sei, ein Garant westlicher Int
eressen in
einer unruhigen, für Europa immens wichtigen Region, und ähnliches mehr.
Doch stimmt das?
Es gibt auch den anderen Blick auf Geschichte und Gegenwart des Landes Israels. Jenen seiner ursprünglichen EinwohnerInnen.
Sie nennen das Land Palästina,
die Heimat aus der sie mehrmals in großen Wellen
–
1948: 750.000, 1967: 350.000 Menschen
–
vertrieben wurden. Diese Vertreibung dauert nach wie vor an und hat sich im zurückliegenden Jahr 2016 neuerlich intensiviert.
Die in Wien aktive Menschenrechtsorga
nisation „Frauen in Schwarz“ listet die Zahlen unter Bezugnahme auf israelische
MenschenrechtsaktivistInnen auf:
Seit Beginn 2016 erhöhte sich der Landraub im besetzten Jerusalem und der West Bank um 440 %, verglichen mit dem Vorjahr.
7.773 Morgen palästi
nensischen Landes wurden also konfisziert, im Vergleich zu 1.442 Morgen im Vorjahr. 343 palästinensische
landwirtschaftliche Einrichtungen wurden in der ersten Hälfte von 2016 zerstört.766.000 israelische Siedler leben in den Bese
tzten
Gebieten (inkl. Jeru
salem). Die Siedlungen werden ständig erweitert und breiten sich immer mehr aus.
Immer wieder bedient sich Israel einer Form der Kollektivstrafe, indem es Häuser von Angehörigen von Attentätern zerstört. Se
it
Oktober 2015 machte es Häuser von 149 Palästine
nsern dem Erdboden gleich, die keine Verbrechen begangen hatten, zerstörte
somit die Existenz ganzer Familien. Hunderte mehr sind bedroht.
Die in der West Bank lebenden Palästinenser stehen unter militärischer Verwaltung. Sie sind tagtäglich der Macht und
Willkür des
Militärs ausgeliefert, rechtlos und in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Verhaftungen von Palästinensern, auch von
Menschenrechtsaktivisten, Frauen und Kindern, sind gang und gäbe. Sie können ohne Anklage in unbegrenzte Verwaltungsh
aft
genommen werden.
Zahlreiche Dorfbewohner sind durch die Annexionsmauer von ihren Feldern abgeschnitten, die sie nur zu von Israel bestimmten
Zeiten bestellen dürfen. Oft sind Missernten die Folge. Israel kontrolliert die ohnehin knappen Wasserressource
n der West Bank,
und schränkt die Wasserzufuhr
auch willkürlich ein. Siedler
überfallen ungestraft palästinensische Dörfer, zerstören Felder und
Olivenhaine, zünden Moscheen und Häuser an, töten PalästinenserIn
nen während die israelische Armee tatenlos zusieht.
Wie soll es weitergehen?
Durch Israels umfassende Kontrolle über die Besetzten Gebiete sind diese praktisch bereits in ein Groß
–
Israel einverleibt. Die
Rechtlosigkeit und die Entmenschlichung und Demüti
gung einer mehrere Millionen zählenden palästinensischen Bevölkerung
macht Israel zu einem Staat, schon jetzt dem ehemaligen Südafrika erschreckend ähnlich, aber im Vergleich dazu ist die
Besatzung Palästinas in mancherlei Hinsicht noch schrecklicher und m
it Südafrika nicht zu vergleichen. Dies wird von
südafrikanischen Besuchern immer wieder bestätigt
–
so etwa auch von Ronnie Kasrils
einem prominenten südafrikanischen
Politiker mit jüdischem Hintergrund, der auch Minister der 1. Regierung Mandela war.
Außer dutzender nie angewandter UNO
–
Resolutionen, trotz Mahnungen von der EU und den Vereinigten Staaten
–
die alle
eigentlich nur Lippenbekenntnisse waren
–
hat Israel nie aufgehört internationales Recht zu verletzen, und verstößt laufend gegen
grundlegen
de Menschenrechte.
Das, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesminister, ist die Lage der PalästinenserInnen. Wie Sie wissen, haben israelische
Regierungen jede Friedenslösung während und nach Oslo vor allem durch den fortgesetzten Bau von Siedlungen auf
paläs
tinensischem Land verunmöglicht. Israel befindet sich in keinem bedrohten Zustand. Vielmehr ist es die israelische Politik un
d
ihre bis an die Zähne bewaffnete Armee, welche die PalästinenserInnen gezielt und systematisch drangsaliert und attackiert.
Isra
els demonstratives Pochen auf seine angeblich vorbildhafte Demokratie ist mehr als fragwürdig. Es beginnt mit dem
Rückkehrgesetz, das nur Juden das automatische Recht auf Staatsbürgerschaft garantiert, und setzt sich fort in anderen
Gesetzen. Die „Judaisie
rung“ drücke sich auch im Alltag aus, schreibt der israelische Historiker Moshe Zimmermann. Der Geograf
Yiftachel spricht von einer „Ethnokratie“, die keine realistische Lösung mit einem wahren demokratischen Inhalt anbieten könn
e.
Was kö
nnen Sie tun
, wenn Sie mit Herrn Netanyahu und anderen VerantwortungsträgerInnen zusammentreffen?
Wir schlagen vor:
Unterstreichen Sie Ihre Unterstützung für einen gerechten und andauernden Frieden.
Erwähnen Sie, dass die Mauer diesem Frieden entg
egensteht, ebenso der fortgesetzte Siedlungsbau auf
palästinensischem Land und die Abriegelung des Gaza
–
Streifens.
Erklären Sie deutlich, dass Sie die Stellungnahme der EU und USA befürworten, wonach es ein illegaler Schritt ist,
ein Gesetz in der Kness
et durchzubringen, welches „die Inbesitznahme von palästinensischem Land, das sich in
Privatbesitz befindet, als „legal“ erklärt.“ Sie unterstützen damit die Meinung des Abgeordneten Benny Begin, der
dieses Gesetz als Diebstahlgesetz bezeichnet.
Drücke
n Sie die Unterstützung Österreichs für die kürzlich verabschiedete Resolution des UN
–
Sicherheitsrats, die
den sofortigen Stopp israelischer Siedlungsaktivitäten im Westjordanland und in Ost
–
Jerusalem vorsieht, aus.
Warnen Sie die Regierung Netanyahu ei
ndrücklich davor, den verstärkten Rückhalt, den es von der neuen
Administration Trump in den USA erhofft, für weitere völkerrechtswidrige Annexionen in oder gar der Westbank zu
nutzen.
Machen Sie Ihren Gesprächspartnern auf Seite der israelischen Reg
ierung deutlich, dass sich Israel bei einer
Fortsetzung seiner Politik zur Schaffung eines ethnozentrischen Großisrael zwischen Mittelmeer und Jordan
international weiter isolieren wird und es damit langfristig auch das Wohl seiner jüdischen Bevölkerung se
lbst
gefährdet.
Zuletzt noch eine Anmerkung im Zusammenhang der österreichischen Innenpolitik:
Mit Besorgnis müssen wir feststellen, dass die schon seit dem Israelbesuch von BM Darabos im Mai 2008 bestehende
Zusammenarbeit mit der Besatzungsarmee Israels
/ IDF entsprechend den Forderungen von Verteidigungsminister Doskozil
intensiviert und auf den „zivilen Sicherheitsapparat“ ausgeweitet werden soll. Damit würden Repressionsinstrumente des
israelischen Staates
–
die
auch
an Palästinenser
Innen
getestet und
gegen sie
ei
ngesetzt werden
–
auch in Österreich adaptiert und
praktiziert! Wir halten diese Zusammenarbeit mit einem militärisch
–
industriellen Komplex, der eine massive Besatzungspolitik
betreibt und dabei unzählige Menschenrechtsverletzungen zu verantworten hat, mit
unserer Neutralität für unvereinbar und wir
fordern sie auf, diese Kooperation zu beenden.
Wir wünschen Ihnen eine erfolgreiche Reise.
Schließlich ersuchen wir Sie, uns nach Ihrer Rü
ckkehr eine Antwort auf unser Schreiben und speziell auf die obgenannte
Punktation zukommen zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Begegnungszentrum für Aktive Gewaltlosigkeit Bad Ischl: Matthias Reichl, eh.
Frauen in Schwarz/Wien: Pa
ula Abrams Hourani, eh.
Gesellschaft für Österreichisch
–
Arabische Beziehungen/GÖAB: Generalsekretär Fritz Edlinger, eh.
Pax Christi Steiermark und Pax Christi Kommission Israel
–
Palästina: Dieter Kurz, eh. und Gerhilde Merz, eh.
Steirische Friedensp
lattform: Franz Sölkner Helga Suleiman
Ergeht zur Information auch an Staatssekretärin Mag. Muna Duzdar,
muna.duzdar@bka.gv.at
Nie wieder Kolonialismus, nie wieder Krieg
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