Deir Yassin, 9. April 1948/2020 Das Recht auf Erinnerung
Dirar Tafeche
- April 2020.
Original: https://zeitun.info/2020/04/08/deir-yassin-9-aprile-1948-2020-il-diritto-alla-memoria/
bzw. info@parallelopalestina.it
In Jerusalem gibt es zwei einander gegenüberliegende Hügel, die zwei verschiedene Geschichten erzählen. Der erste ist in der ganzen Welt berühmt, wird auch von einigen Staatsoberhäuptern besucht, auf ihm befindet sich das Yad Vashem, Symbol für die Verurteilung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auf dem zweiten befindet sich heute die israelische Stadt Kfar Sha’ul, wo sich einmal das Dorf Deir Yassin befand.
Die beiden Hügel sind im Raum durch ein Tal getrennt, aber auch in der Zeit, da jeder Hügel von Fakten erzählt, die aus unterschiedlichen Kontexten stammen. Es gibt also keine Vergleiche, obwohl Edward Said, ein palästinensischer Essayist, sagt, dass es einen gibt: Juden und PalästinenserInnen wurden in ihrer Tragödie allein gelassen. Das Leiden der Juden wird erinnert und gefeiert. Dagegen nicht eine Gedenktafel, ein Grabstein oder ein Denkmal, das an das Massaker von Deir Yassin erinnert: ein Mangel, auferlegt durch das Gesetz des Staates Israel. Ein Urteil, welches bewusst eine Gedenkveranstaltung leugnet und ausschließt. Die Botschaft „Nie wieder“ Gräueltaten und Barbarei bedeutet für den Staat Israel, dass dies für die einen und nicht für die „anderen“ gilt. Ich wiederhole, es ist das Gesetz des Staates Israel, das jede Feier der Nakba (Katastrophe) verbietet, so dass Palästina und die PalästinenserInnen in der Vergessenheit der Geschichte enden werden. Der Name des Dorfes leitet sich von der Existenz eines Deir (was aus dem Arabischen übersetzt Kloster bedeutet) und eines Grabes eines muslimischen Gelehrten namens Yassin ab. Die Häuser (1944 waren es 144) wurden aus massiven Steinen gebaut und durch schmale, geschwungene Straßen getrennt. Einige dieser Häuser sind heute noch zu sehen. Die Bevölkerung (1948 waren es 708 Einwohner) war weitgehend wohlhabend und bearbeitete das Land im Tal, das reich an zwei Quellen ist, die den Anbau von Olivenbäumen, Weizen und Mandeln ermöglichten. Einige Einwohner waren aufgrund der strategischen Lage in der Nähe der Straße, die Jaffa mit Jerusalem verbindet, Händler. Andere, insbesondere zur Zeit des britischen Mandats, waren berühmte Steinmetze in den vier reichen Steinbrüchen, die solide Steine und ein gutes Einkommen lieferten.
Schulkinder lernten zunächst in der nahen gelegenen Lifta-Schule, doch 1943 wurde Deir Yassin um zwei Schulen, eine fuer Maedchen und eine fuer Knaben und eine Moschee bereichert. Im Jahr 1906 entstand im Westen die Siedlung Kfar Sha’ul und später im Südosten Yefe Nof und Beit HaKerem. Heute ist der Hügel buchstäblich von vielen anderen israelischen Städten umgeben. Die Beziehungen zwischen PalästinenserInnen und Juden waren vor der Balfour Erklärung von 1917, die den Juden eine nationale Heimstätte in Palästina versprach, eine gut nachbarliche mit Handel. Als die zionistische Absicht, einen jüdischen Staat zu errichten, deutlich wurde, verschlechterte sich die friedliche Atmosphäre, bis sie während des palästinensischen Aufstands von 1933 gegen die Briten, die die jüdische Einwanderung nach Palästina sicherten, zerbrach, um dann wieder aufgenommen zu werden, nachdem Großbritannien den Aufstand 1939 niederschlug.
Das Massaker
Das Dorf war Schauplatz eines Massakers, trotz des Nichtangriffpakts zwischen den Honoratioren des Dorfes Deir Yassin und den Führern der Haganah [der wichtigsten zionistischen Miliz]. Der Angriff begann im Morgengrauen des 9. April 1948. Es war das Werk der beiden jüdischen Banden der IZL (Irgun Zvai Leumi) unter der Führung des zukünftigen Premierministers und Friedenspreisträgers Menachem Begin und der Stern-Bande von Yizhak Shamir, ebenfalls zukünftiger Premierminister. Die beiden Einheiten betraten das Dorf um 4.00 Uhr morgens und warfen Bomben aus einem Flugzeug, gefolgt von der Invasion durch Männer und Panzern. 120 mit Maschinengewehren bewaffnete Männer drangen in das Dorf ein, warfen Handgranaten in die Fenster und unterminierten die Basis jedes Gebäudes. Den Dorfbewohnern, die sich in ihren Häusern verbarrikadiert hatten, gelang es, den Angriff für kurze Zeit zu stoppen, aber der Widerstand endete bald wegen der knappen Munition und der Ankunft der Palmach-Einheit, einer Elitekompanie der Haganah, der zukünftigen Armee Israels, die den Angreifern helfen sollte. „Der Kommandant [ der Haganah] Ya’akov Vaag brachte seine Männer nach Deir Yassin und begann, das Dorf mit Mörsern zu bombardieren. Nachdem der Widerstand beseitigt war, befahl Meir Pa’il, der Verbindungsoffizier der Haganah, der die „Mission“ begleitete, Ya’akov Vaag, seine Männer zurückzuziehen und das Nachfolgende in den Händen der Irgun- und Stern-Männer zu lassen… „. Die Dorfbewohner wurden Haus für Haus zusammengetrieben und getötet. Dutzende von Leichen werden in den Brunnen auf dem Dorfplatz geworfen“(1)
An jenem 9. April führten 120 Angreifer das Massaker durch und töteten 254 unbewaffnete Einwohner, wie das Rote Kreuz in Jerusalem mitteilte, das am nächsten Tag auf dem Gelände eintraf. Viele Leichen waren auf dem Boden und unter den Trümmern der Häuser. Die wenigen Überlebenden suchten Zuflucht in Jerusalem, Jericho und Hebron. Um fünf Uhr abends wurden ein paar Gefangene in Handschellen und barfuß auf Lastwagen verladen und im Siegeszug nach Jerusalem gebracht, wo sie mit triumphierenden Parolen durch die Straßen der Stadt geführt wurden. Der israelische Historiker Benny Morris schreibt in dem Buch ´Opfer`[Rizzoli 2002, S. 265-266]: „Die erwachsenen Männer wurden auf einigen Lastwagen in die Stadt gebracht, durch die Straßen paradiert, [von Jerusalem] zum Ausgangspunkt zurückgebracht und mit Maschinengewehren und Maschinenpistolen erschossen. Vor dem Verladen auf die Lastwagen durchsuchten die Männer von IZL und Lehi [Akronym für Lohamei Herut Israel, eine zionistische paramilitärische Terrorgruppe, ed] Frauen, Männer und Kinder und nahmen ihnen Geld und Schmuck ab. Die Behandlung, die ihnen zuteil wurde, war besonders barbarisch, mit Tritten, Druck mit Gewehrläufen, Spucken und Beleidigungen (einige Bewohner von Givat Shaul nahmen an den Schikanen teil)“. „Der Informationsdienst der IDF (Israelische Verteidigungskräfte) definierte Deir Yassin“ als einen entscheidenden Faktor für die Beschleunigung der Massenflucht. Das Massaker von Deir Yassin gehört nicht zu den größten, die an palästinensischen Zivilisten verübt wurden, aber es diente dazu, in ganz Palästina Panik und Angst zu verbreiten und die Einwohner 1948 zum Verlassen ihrer Häuser zu zwingen.
Die Zeugenaussagen
Die systematische Zerstörung von mehr als 400 Dörfern und die Vertreibung von 700.000 bis 800.000 PalästinenserInnen aus ihren Häusern war Teil des Dalet-Plans, der von der Haganah mit der ersten Operation namens Operation Nachschon verordnet wurde und darauf abzielte, ländliche Dörfer in den Bergen um Jerusalem zu besetzen. Dazu gibt es viele Zeugenberichte in den Büchern arabischer, israelischer und anderer Historiker, von denen einige im Internet und auf der Website „palestineremembered.com“ veröffentlicht sind. Ich glaube jedoch, dass die wirksamste, klarste und dem Fall am besten entsprechende Erklärung die der Vollstrecker selbst ist, die in einem langen und interessanten Artikel von Ofer Aderet in der Zeitung Haaretz dokumentiert ist, dessen Lektüre ich empfehle, weil sie sich des Zwecks und der Grausamkeit der Hinrichtung bewusst sind. (2) Um mich kurz zu fassen, nur zwei Auszüge aus diesem Artikel, auf den ich mich für eine mögliche Lektüre beziehe: „Ein junger Mann, an einen Baum gefesselt und in Brand gesteckt. Eine Frau und ein alter Mann werden in den Rücken geschossen. Mädchen an die Wand gestellt und mit einer Pistole geschlagen“; „Wir beschlagnahmten viel Geld, Silber- und Goldschmuck fiel uns in die Hände“. Anstelle von Aderets Artikel ziehe ich das Zitat eines kleinen Jungen vor, das der israelische Historiker Ilan Pappe in dem Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“ [ Fazi Ed., 2008, S. 117] dokumentiert hat: „Fahim Zaydan, der damals zwölf Jahre alt war, erinnert sich, wie vor seinen Augen seine Familie hingerichtet wurde: ‚Sie haben uns nacheinander herausgeholt; sie erschossen einen alten Mann, und als eine seiner Töchter weinte, erschossen sie auch sie. Dann riefen sie meinen Bruder Muhammed und erschossen ihn vor unseren Augen, und als meine Mutter aufschrie und sich über ihn beugte und meine kleine Schwester Hunda im Arm hatte, die sie noch immer stillte, erschossen sie auch sie. Sie schossen auch auf Fahim selbst, der das Glück hatte, trotz seiner Wunden zu überleben“.
Die Operation Nachschon wurde nach Deir Jassin in den anliegenden Dörfern Qalunia, Sais, Beit Surik und Biddo fortgesetzt. Doch nach einigen Tagen „wurden dreiundfünfzig verwaiste Kinder von Fräulein Hind Husseini entlang der Mauern der Altstadt gefunden und in ihr Haus gebracht, das zum Waisenhaus von Dar El-Tifl El-Arabi („Heim des arabischen Kindes“) werden sollte (3). Dieses Waisenhaus existiert noch heute.
Deir Yassin heute
Die Operation Nachschon wurde von der Hagana, Israels künftiger Armee, entworfen und zielte auf die totale Kontrolle der Dörfer im Jerusalemer Bezirk ab, die aufgrund ihrer strategischen Lage in der Nähe der Straße Jaffa-Jerusalem strategisch günstig gelegen sind. Nach dem Massaker besetzten jüdische Banden das Dorf, das nun evakuiert und frei von Palästinensern war. Hier und da stehen noch einige Häuser, die heute von jüdischen Israelis als Geschäftshäuser und Lagerhäuser genutzt werden. Am Rand, auf den Feldern, einige vom Gras überwucherte Olivenbäume sowie der Friedhof, auf dem Grabsteine von einigen Toten in ferner Vergangenheit zeugen.
Schlussfolgerung
„Das Volk, das keine Erinnerung hat, kann keine Geschichte haben.“
Deir Yassin war ein sehr schmerzhaftes Ereignis und wurde weitgehend von Israel und nicht von den PalästinenserInnen begraben. Heute versuchen die PalästinenserInnen trotz aller Widrigkeiten, ihre Geschichte wieder aufleben zu lassen und die menschliche, politische und kulturelle Seite eines Volkes zu fördern, das Opfer des zionistischen Rassismus ist, der von einem Staat ausgeübt wird, der den Anspruch erhebt, demokratisch zu sein. Durch Vereine, Initiativen mit Präsentationen von Dokumenten, Debatten, Filmen, Ausstellungen usw. wollen sie die Erinnerung an die Ungerechtigkeit, die PalästinenserInnen durch die Hände jüdischer Banden erlitten haben, wiederbeleben. Alle Initiativen sind eng mit zwei Prinzipien verbunden: dem Recht auf Rückkehr und dem Recht auf Erinnerung. In beiden Fällen war Israel immer ein Hindernis und ein Unterdrücker.
(1)- Aus dem Buch „Palästina“ S. 60, Zambon-Ausgabe, 2010.
(2)- Haaretz, 17.7.2017, Titel: Zeugenaussagen aus dem zensierten Massaker von Deir Yassin: „Sie häufen Leichen an und verbrennen sie“ von Ofer Aderet.
(3)- Aus dem Buch (veröffentlicht auf Arabisch in palestineremembered.com) „Die Nakba und das verlorene Paradies“ von Aref el Aref, palästinensischer Historiker und Bürgermeister von Beer Sheba im Jahr 1948.
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